Some Great Reward

Depeche Mode ist die große Ausnahme-Erscheinung im britischen Techno-Pop. Spätestens mit ihrem dritten Album "Construction Time Again" bewiesen die vier auch dem letzten Kritiker, daß ihre filigranen Klangkollagen in Arrangement und Sound "anderen Bands um Lichtjahre voraus sind" (Smash Hits). Trotz - oder vielleicht gerade wegen (?) - ihres kompromißlos hohen und ernsten Anspruchs gehört Depeche Mode zu der handvoll Bands, die auch bei ganz jungen Fans den Status von "Superstars" genießen. Das zeigten begeisternde und ausverkaufte Konzerte im Dezember '83, eine Nummer-Eins-Notierung mit "People Are People" im Mai '84 und last not least der umgehende Hitparaden-Eintritt der neuen Single "Master And Servant" im Herbst. Vom 20. November bis 13. Dezember steht nun eine 14-tägige Konzert-Tournee durch deutsche Lande auf dem Plan. Und Fans sowie Kritik können sich freuen: Mit im Gepäck haben die vier Elektronik-Bastler außer einer fantastischen Light- und Sound-Anlage Songs aus ihrer neuen LP "Some Great Reward".

1980 Im Spätsommer 1980 beginnt die Chronik von Depeche Mode: In Basildon, gar nicht weit von London, beschlossen Vince Clarke, Andrew Fletcher und Martin Gore, gemeinsam Musik zu machen. Die drei kannten sich von der Schule. Vince war zuvor Gitarrist in einem Folk-Duo, Martin bediente einen Synthesizer, und Andrew zupfte die Baßgitarre. Fehlte noch ein ausdrucksstarker Sänger, den sie in Dave Gahan auch fanden. Die unternehmungslustigen vier spielten zuerst konventionellen Pop, doch schon bald verfrachteten sie die lästig gewordenen Gitarren in den Keller - ein kluger Schritt, wie sich bald herausstellen sollte - und gründeten ihre Song-Bauwerke fortan allein auf Synthesizer-Fundamente.

Ein Name war schnell gefunden: "Depeche Mode", frei nach einer französischen Modezeitschrift. Die Demotapes der jungen Synthi-Band wollte jedoch anfangs niemand hören. Alle Londoner Plattenfirmen verschlossen die Ohren vor der Musik der jungen Band, in der keiner älter als 20 Jahre war. So schlug die große Stunde von Depeche Mode erst bei einem Gig im Bridge House von Canning Town, wo die Band das Vorprogramm von Fad Gadget bestritt. Daniel Miller, Elektroniktüftler, Produzent und Chef des kleinen Labels Mute Records, sah sie und engagierte sie vom Fleck weg.

1981 Mit dieser Allianz zogen Depeche Mode das große Los. Gleich die erste von Miller produzierte Single "Dreaming Of Me" enterte die britischen "Top 30". Der Nachzieher "New Life" kam unter die ersten zwanzig, und mit "Just Can't Get Enough", ihrem dritten Coup, zogen Depeche Mode gar in die begehrten Top Ten ein. Genial gestrickte Ohrwürmer im leichtfüßigen Synthipop-Sound hievten den ersten Longplayer "Speak And SpeIl', im November 1981 erschienen, im Handumdrehen in die Top Ten der Album-Charts. Auch live rissen Depeche Mode die Kids mit. "Man könnte meinen, die Fans könnten niemals genug kriegen vom New-Pop der Depeche Mode", ereiferte sich der sonst eher reservierte New Musical Express, Das Musikblatt The Face diagnostizierte nach ihrer ersten England-Tour gar: "Sie erwiesen sich als die tanzbarste Popband auf dem Markt."

Mitten in dieser ersten Erfolgswelle traf die Band ein schwerer Schlag. Der scheue Vince Clarke, der auf 'Speak And Spell" das Songwriting bei fast allen Titeln besorgt hatte, zeigte sich so irritiert vom Rummel um die frischgebackenen Hitparadenstürmer, daß er die Gruppe kurzerhand verließ. Mit dem Blues-Raul-lcelilchen Alison Moyet steuerte er einen höchst ertragreichen Solokurs unter dem Markenzeichen "Yazoo". Da waren's nur noch drei, die sich aber bestens züi helfen wußten. Martin Gore, der sich schon auf "Speak And Spell" mit zwei Stücken als Songschreiber versucht hatte, avancierte zum neuen Melodienschmied. Erfolgreich setzte er die Linie der charmanten, unkomplizierten Synthi-Miniaturen fort. "See You", als vierte Single veröffentlicht, brachte Depeche Mode die bislang höchsten Notierungen in den englischen Single-Charts. Mit dem Synthesizer-Spezialisten und Background-Sänger Alan Wilder fand sich auch bald ein neuer vierter Mann, der die Band zuerst nur sporadisch bei Livekonzerten unterstützte, seit 1983 aber fest zum Line-Up gehört.

1982 wurde ein geschäftiges Jahr für die Truppe: erfolgreiche Tourneen durch die USA und England, erste Auftritte auf dem europäischen Festland und zwei weitere Singles, "The Meaning Of Love" und "Leave In Silence", das der New Musical Express ein "wundervolles Lied über Liebe und Einsamkeit" nannte. Im September folgte dann die langerwartete LP "A Brotren Frame", ein Album mit eher zärtlichen, versponnenen Melodien, sanften Grundstimmungen und weichen Vokalharmonien. über die Platte, die Position 8 in den britischen Charts erklomm, äußerte sich Martin, der alle Songs komponierte: "Wir sind immer noch eine Popgruppe der 80er Jahre. Aber jeder von uns ist älter geworden. Vielleicht auch ernster und illusionsloser."

Das Jahr 1983 beginnt für die flinke, nimmermüde Mode-Depesche mit der Veröffentlichung ihrer siebten Single "Get The Balance Right". Nach einer Frühjahrstournee durch die USA, Kanada und den ersten Auftritten im Fernen Osten gehen die vier wochenlang im Berliner Hansa-Studio in Klausur. Produzent und Gruppen-Mentor Daniel Miller ist wieder dabei. Die Fertigstellung der dritten LP steht auf dem Programm.

Das Ergebnis der langen Tüftelarbeit im Studio verblüfft: Auf "Construction Time Again" experimentieren die erfinderischen Jung-Elektroniker mit ungewohnten Klangfarben und fremdartig anmutenden Geräuschkollagen, ohne den Kompositionen ihre fast kindliche Unbeschwertheit und Leichtigkeit zu nehmen. Mit einem Synclavier, einem dem Fairlight CMI ähnlichen Musik-Computer, fingen die vier Elektronik-Pioniere alle möglichen Umweltgeräusche ein: Maschinen- und Verkehrslärm, im Freien aufgenommene menschliche Stimmen, ein S-Bahn-Zug in einem Tunnel. Vor allem deutsche Fans finden Gefallen an den genialen innovativen Sounds: Das Album hält sich wochenlang in den deutschen Top Ten, monatelang in den "Top 75". Auch die ausgekoppelten Singles "Everything Counts" und "Love In Itself" schaffen hohe Notierungen.

1984 Die erste weltweite Nummer-Eins-Plazierung in der noch jungen Depeche-Mode-Geschichte aber erfolgt mit der im April auf den Markt gebrachten harten Tanz-Nummer "People Are People". Daß dies gerade in Deutschland passierte, freute die vier ungemein: "Es dauerte so lange und war ein ganzes Stück harter Arbeit, bis wir hier Fuß fassen konnten", erzählt Sänger Dave, "unsere drei ersten Songs floppten hier, obwohl wir in England hohe Chartpositionen erreicht hatten." Mittlerweile aber hat sich das Blatt gewendet. Als die "glorreichen Vier" (Pop Rocky) im Juni beim Ludwigshafener Open-Air-Festival auftreten, jubeln ihnen 50 000 Fans begeistert zu, und "Headliner" Elton John klopfte Dave anerkennend auf die Schulter: "Jungs, euer Sound hat das Zeug, Popgeschichte zu schreiben. 'People Are People' gehört zu meinen Lieblingssongs." Ein großes Lob für die Jungs, doch beileibe kein Grund, sich auf Lorbeeren auszuruhen: Songwriter Martin Gore komponiert weitere Songs, die er übrigens in Ur-Form nur mit Gitarre oder einem billigen Casio-Synthi aufs Band bringt. Und danach stehen wieder Studio-Sessions an - im Juli in London, wo die ersten Grundplaybacks für die neue LP entstehen, im August und September erneut im Berliner HansaStudio, wo das Album abgemischt wird. Einen ersten Vorgeschmack auf die neue LP gibt die Single "Master And Servant": Ende August erschienen, schnellt der harte Tanz-Track mit kritischem Text bereits nach drei Wochen auf Position 3 der deutschen Verkaufscharts. Die Medien reagieren prompt: "Formel Eins", "Musikladen", "Ronny's Popshow" und "Thommy's Popshow Extra" stellen die neue Single vor, Teenie- und Musikmagazine kennen kaum noch die Anfragen nach Stories befriedigen.

Und ein Verlag in Hannover bringt zwei Spezial-Magazine heraus, die sich ausschließlich mit Depeche Mode befassen: ein 16-seitiges "Depeche Mode"-Starposter ein farbiges 48-seitiges Buch mit kompletter Bio- und Discographie. Viel Wirbel also um die vier Easildoner Boys. Doch mit ihrer vierten LP, die am 24. September auf den Markt kommt, beweist das Quartett, daß es ein solches Aufsehen verdient hat. Martin Gore, Andrew Fletcher, Dave Gahan und Alan Wilder konnten zusammen mit Producer Daniel Miller ihre kontrastreiche Synthese aus ungewöhnlichen Sounds, harten Rhythmen und eingängigen Gesangslinien noch verfeinern. Wurden auf "Construction Time Again" noch herkömmliche Synthesizer verwendet, so kam "Master And Servant"" ausnahmslos mit einem sogenannten "Synclavier" aufs Band.

Andrew Fletcher zur Arbeitsweise: "Wir nahmen sehr viele natürliche Instrumente auf wie Schlagzeug, Percussion, viele Kinderkeyboards und darüberhinaus auch Umweltgeräusche, speicherten sie ein und riefen sie bei Bedarf ab. Natürlich können diese ursprünglichen Sounds dann noch frequenzmäßig verändert werden.."

Textlich/inhaltlich überrascht die LP durch viele persönliche Songs. "Wir wollten nach der vorigen LP nicht plötzlich als politische Band dastehen", erklärt Andrew Fletcher. "Wir reflektieren, was uns in dieser Welt und unserer eigenen Umgebung ganz persönlich bewegt. Das textliche Konzept dieses Albums ist dem des zweiten Albums ("A Broken Frame") angeglichen."

Beispiele gibt es genug: So könnte man den Titel "Something To Do" als eine Art Zustandsbeschreibung des tristen Lebens in ihrer Heimatstadt Basildon bezeichnen, "It Doesn't Matter" und "Somebody" als sehr persönliche Liebeslieder, wobei letzteres durch die Art des Arrangements überrascht: Songwriter Martin Gore, auf diesem gefühlvollen Track für die Lead-Vocals zuständig, ließ sich dabei nur von einem Piano begleiten. Depeches sozialkritische Songs fehlen dennoch nicht. Die kraftvollen Heavy-Sound-Nummern "People Are People" und "Master And Servant" kennt man als große Hits. "Blasphemous Rumours", ein eher subtiler Synthi-Song mit eingängigem Refrain könnte der nächste Renner aus dem Album werden.

Davor jedoch steht erst einmal die "aufwendigste Depeche-Tournee aller Zeiten", wie Andrew Wilder verspricht. Depeche Mode bleibt on top...

(Quelle: Intercord Presse Info 10/84 zum Release)